Eigentlich
sollte dies ja ein Weihnachtsbrief werden. Eine Karte mit ein paar Gedanken
dazu. Nun ist etwas anderes draus geworden. Eine Geschichte über einen Brief.
„Die
Heiligen Drei Könige unterwegs / Jörg Länger // Protagonisten nach Apsismosaik,
Santa Maria Nuova, Monreale/Italien, ca. 1180 // © Jörg Länger und VG-Bildkunst
/ www.Laenger.com // Gestaltung: Jutta Willert / © Gottesdienst-Institut,
Nürnberg“ steht da. Eine der Kunstpostkarten aus dem aktuellen Angebot für
Advent und Weihnachten. 10 auf 10 Zentimeter groß.
Die ist es. Die verschickst
du dieses Jahr, denke ich, als mir im Oktober der Rundbrief mit den Neuigkeiten
aus Nürnberg auf den Schreibtisch flattert. Der Weihnachtsgruß mal anders, so
anders wie dieses ganze Jahr. Kein Chichi, aber glanzlos auch nicht. Ein bisschen
abstrakt. Schon zu sehr?
Eine dunkelbeige Leinwand.
Die obere Hälfte füllt ein bogenförmiger Ausschnitt eines Nachthimmels voll
goldener Lichtpunkte. Wie ein vom Scheibenwischer freigegebener Blick in die
Milchstraße, im O-Ton der Produktbeschreibung: „teilweise goldfoliert“. Mitten
darunter eine Gruppe von Figuren. Ziemlich viele Beine. Drei Reiter auf ihren
Pferden. Zwei ausgestreckte Arme, zwei Zeigefinger in den Himmel weisend. Hm. Als
Erläuterung nur die Quellenangabe auf der Rückseite. Mehr möglicherweise in der
Arbeitshilfe, die man für einen Epiphanias-Gottesdienst dazubestellen kann,
„Licht im Herzen“. Muss aber doch auch so rauszukriegen sein, was es mit diesem
Motiv auf sich hat…
Ich googele „drei könige
apsismosaik maria nuova monreale“ und bekomme Bilder der prächtigen
sizilianischen Basilika aus dem 12. Jahrhundert, die seit sechs Jahren zum
Weltkulturerbe gehört. Voller byzantinischer Mosaiken, auf Goldgrund. Die Apsis
wird von Christus dem Weltenherrscher dominiert, dazu die Gottesmutter,
Propheten, Engel und Apostel. Die Mosaiken des Chorraums und der Querschiffe zeigen
Szenen aus dem Leben Jesu, steht da. Ich klicke ein bisschen herum, ob sich
irgendwo die Könige finden. Nichts.
Dann halt anders. Ich
googele „drei könige apsismosaik“ und bekomme Balthasar, Melchior und Caspar serviert,
in bunten Hosen und mit roten Kappen auf Goldgrund vor Palmen, jeder ein
Geschenk in der Hand: das Mosaik in der Basilika von Santʼ Apollinare Nuovo in Ravenna,
6. Jahrhundert. Falsche Kirche, falsches Bild. So also auch nicht.
Vielleicht geht’s ja
einfacher beim Künstler direkt.
In der Tat: Auf der Webseite
von Jörg Länger gibt es eine ganze Reihe von Variationen zur Postkarte zu sehen.
Und den Hinweis auf eine völlig andere Vorlage: „Hl. Drei Könige. 2013,
Protagonistendruck (Linolschnitt), Gesso, Ölfarbe und Ölpastellkreide auf
Alu-Dibond, 21 x 21 cm […] Protagonisten nach … – unbekanntem Künstler, Die Hl.
Drei Könige, 1120-1145, St. Albans Psalter, Dombibliothek, Hildesheim“. Ah ja? Also nochmal von vorn: „St Albans
Psalter Hildesheim“.
Treffer! Sofort taucht
rechts auf dem Ergebnis-Bildschirm eine Buchillustration auf, die nichts
anderes sein kann als das Original der verfremdeten Figurengruppe von der
Weihnachtskarte.
Aber was machen die Heiligen
Drei Könige im Psalter?
Sie sind eine von vierzig
ganzseitigen Miniaturen aus dem Leben Christi, herrlich bunt gemalt in
Deckfarbenmalerei, die mit einem liturgischen Kalender, dem Lied des Alexius
(die altfranzösische Nachdichtung einer lateinischen Heiligenlegende), einem
Brief Papst Gregors des Großen (auf Französisch), einem Diskurs über Gut und
Böse, einem Bild vom Martyrium des Heiligen Alban und einigen anderen Bildern und
den 150 Psalmen in eine Pergamenthandschrift zusammengebunden wurden. Das Ganze
ist wohl zwischen 1120 und 1130 entstanden, in der Benediktinerabtei St. Alban
in Hertfordshire, nordwestlich von London, vermutlich unter Abt Geoffrey von
Gorham, und war vielleicht für die Rekluse Christina von Markyate bestimmt. Mit
seiner kunstvollen Ausstattung (neben den Miniaturen schmücken 211 große
Initialen in Deckfarbenmalerei und 17 farbig lavierte Federzeichnungen die
Texte!) gehört der Albani-Psalter zu den bedeutendsten Handschriften seiner
Epoche.
Natürlich gibt es von so
einer bedeutenden Handschrift mittlerweile eine frei zugängliche digitale Version. Natürlich vollständig. Faszinierend, da hineinzublättern und festzustellen,
dass von den vierzig Miniaturen allein fünf die Erzählung von den Heiligen Drei
Königen bebildern. „Die heiligen drei Könige folgen dem Stern“ ist das zweite
Bild einer kleinen Serie zur Überlieferung aus Matthäus 2,1-12.
Drei
Männer hoch zu Ross (... und was ist mit Kamelen?!), edel gekleidet wie Könige im Mittelalter. Alle drei den
Kopf in den Nacken gelegt, den Blick nach oben, in den Himmel. Ausgestreckte
Arme und Zeigefinger weisen auf einen Stern (vgl. Mt 2,9). Nur ein Pferd schaut
nach vorn und behält den Weg im Blick.
Vier Seiten weiter kann man
sehen, wie die Drei in entgegengesetzter Richtung und Reihenfolge zur Hinreise
zurückkehren in ihr Land, zwei von ihnen tief im Gespräch über das, was sie
erlebt haben (Mt 2,12).
Englische Benediktiner haben
die Handschrift und mit ihr die Könige nach Lamspringe gebracht. Während des English
Civil War (1642-1649), in dem nicht nur politische, sondern auch konfessionelle
Spannungen ausgetragen wurden, waren die Mönche nach Norddeutschland gekommen
und hatten das Kloster besiedelt. Von Lamspringe gelangte die Handschrift in
den Besitz der Hildesheimer Benediktiner bei St. Godehard. Die schenkten den
Psalter 1827 der Gemeinde von St. Godehard, in deren Eigentum sie sich bis
heute befindet und für die sie seit 1908 von der Dombibliothek verwahrt wird. Einer
ihrer kostbarsten Schätze.
Warum wollen so viele Weihnachtsbriefe
eigentlich besondere Botschaften sein, Mini-Predigten? Weil ein „Frohe und
gesegnete Weihnachten!“ nicht ausreicht? Weil es schließlich auch zu
Weihnachten um Originalität geht, um einen besonderen Gedanken? Weil ich das,
was mich wirklich bewegt, gar nicht teilen will, sondern lieber für mich
behalten? Weil ich selber noch auf der Suche nach dem Geheimnis von Weihnachten
bin? Vielleicht steckt es ja in den Sätzen, die ich hier schreibe – und die muss
ich erst aufschreiben, um zu verstehen, worum es geht?
Für Jörg Länger sind die Heiligen
Drei Könige aus dem Albani-Psalter „Protagonisten“: Wiedergänger aus dem Fundus der Weltkunst. Aber
wer ist Jörg Länger?
Ein zeitgenössischer
Künstler, 57 Jahre alt, geboren in Berlin, der nach Jahren in Hamburg jetzt im
Chiemgau lebt. Vor dem Kunststudium hat er Geistes- und Religionswissenschaften
studiert. Er hat einen Sinn für Kontinuität. Er verarbeitet in seinen Werken
die Erkenntnis, dass seine eigene Kunst aus auf Formen, Themen und Motive aus 2300
Jahren Kulturgeschichte zurückgreift. In einer Werkphase hat er so genannte
„Protagonisten“ aus ihrem kunstgeschichtlichen Kontext gelöst, stilisiert und
neu inszeniert. Auch die Heiligen Drei Könige. Nach gut 900 Jahren holt er sie aus
dem prächtigen Rahmen ihrer Miniatur, vom Pergament auf eine Leinwand. Nicht
mehr mittelalterlich bunt, sondern fast monochrom. Keine Gesichter, keine
Gewandfalten, keine Ornamente. Nur eine Silhouette. Wer das Original nicht
kennt, braucht eine Weile, bis das Auge sich orientiert.
Wirklich ziemlich viele
Beine. Nach oben gereckte Köpfe und zwei ausgestreckte Arme. Darüber, mit
breiten Pinselstrichen in tiefem Blau, ein Streifen offener Himmel – voller
Sterne. Golden leuchtende Lichtpunkte. „Die Heiligen Drei Könige unterwegs“. Kaum
wahrnehmbar wabert ein Abglanz des Sternenlichts zwischen der Figurengruppe und
dem Himmel. Umso deutlicher dort, wo die Könige ihr Herz haben, in jedem ein
Lichtpunkt. Golden wie im Himmel. Licht im Herzen.
„Have a wonderful rest of
your magic day,” sagt der Mann mit dem Schlapphut, als wir im Disney Resort von
Bord des kleinen Boots gehen. Es ist Mitte Dezember, dritter Advent. Die Sonne
scheint, die Leute sind in Ferienlaune, Außentemperatur 82 °F, hatte das Thermometer
vorhin im Mietwagen angezeigt, das sind 28 °C. Welcome to Disneys Magic
Kingdom. Hier ist alles magisch. Das Disney-Universum lebt davon, die Welt zu
verzaubern, mit seiner besonderen Ästhetik, mit seinen positiven Botschaften:
Gemeinsam geht alles. Wo du herkommst, ist unwichtig; was zählt, ist das, was
du erreichen willst.
Magisch… Wenn du die
Geschichte der Protagonisten nachliest im Matthäusevangelium, stellst du fest: weder
drei noch heilige noch Könige. „Weise aus dem Morgenland“, übersetzt Luther, wörtlich
im Griechischen: mágoi apò anotolôn, Magier aus dem Osten/Orient.
Nein, keine Zauberer. Magier.
Einer von sechs Volksstämmen der Meder, oder eine Bezeichnung für Priester aus
dem Gebiet des Iran – jedenfalls, wenn man die Überlieferung des griechischen
Historikers Herodot für zuverlässig hält. Gebildete Leute, den Geschenken, die
sie dem Kind bringen nach zu urteilen, eher wohlhabend als arm. Eigentlich egal.
Matthäus erzählt ihre Geschichte als Beispiel dafür, dass Menschen aus fremden
Völkern Jesus als den Messias verehren.
Irgendwie muss diese Sache mit
Gott, der als Kind in einem Stall zur Welt kommt, etwas Magisches haben. Schon
damals etwas, das Menschen von nah und von ganz fern in Bewegung versetzt hat.
Und auf geheimnisvolle Weise so viel, dass die Faszination dieser Überlieferung
auch 2021 Jahre später noch kulturell wirkt – selbst bei denen, die die
Geschichte im Grunde kaum kennen.
Immanuel, Gott mitten in
uns. Als Licht im Herzen, als Quelle, als Kraft… In der Buchminiatur haben die
Könige den Blick des Betrachters vor allem anderen auf den Stern lenken sollen.
Auf der Weihnachtskarte tun sie das immer noch. Aber mindestens so sehr wie die
zum Sternenhimmel deutenden Finger ziehen die goldenen Lichtfunken in den
Herzen der Drei meine Aufmerksamkeit auf sich. „Have a wonderful
rest of your magic day!” Könige. Magier. Protagonisten.
Wie Disney wohl ihre Geschichte erzählen würde?
Was man so sucht… Eine passende Weihnachtskarte. Eine Perspektive für die Zukunft der Kirche und für sich selbst. Für eine Weile wenigstens Abstand vom Alltag. Das Meer. Irgendetwas, damit sich die offene Wunde doch noch einmal schließt. Trost. Oder besser noch, einen Ausweg aus dem Loop der In-sich-selbst-Verkrümmung. Erfüllte Beziehungen, oder wenigstens eine. Mehr Farbe im Leben als „teilweise goldfoliert“. Gesundheit und Fitness. Einen Sinn in dem, was man tut. Etwas gegen die Enge des Lockdowns, der diesmal „Weihnachtsruhe“ heißt, als ob das besser klänge! Neues Licht im Herzen–
Und was man unterwegs so
findet: eine richtig falsche Quellenangabe. Ein prachtvolles Buch mit
Migrationshintergrund, das ursprünglich ein Abt für eine Frau hat anfertigen
lassen. (Wenn der mal nicht wenigstens ein ganz bisschen für sie geschwärmt hat…).
Ein Bild, das neu lebendig wird, – nicht obwohl, sondern weil es auf eine Silhouette
reduziert wurde. Einen Sinn für magische Momente, auch wenn die Männer mit den
Schlapphüten nur Teil einer großen Inszenierung sind. Einen Freund. Eine Spur vom
Himmelslicht im Herzen. Das Licht der Erkenntnis. Das Licht der Aufklärung, die
zur Religion einfach dazugehört, oder? Das Licht der Hoffnung. Die Heiligen
Drei Könige unterwegs. Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen,
ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. It’s magic.
Abbildungen: commons.m.wikimedia.org (Albani-Psalter) und shop.gottesdientsinstitut.org (Karte mit Motiv von Jörg Länger).
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