Schau an!

Bilderlust? Naja! Aber die Bilderfeindlichkeit des Protestantismus ist ein Klischee
 

Sollte ich eine Geschichte des Protestantismus in 100 Bildern verfassen müssen (wobei ich ‚Bilder‘ pars pro toto nehme für Kunstobjekte aller Art), ich wüsste, was darin nicht fehlen dürfte: Ein Flugblatt gegen den Ablass und eine der hinreißenden Karikaturen auf Luthers Gegner. Der Holzschnitt „Sünde und Gnade“ (1530) von Lucas Cranach d. Ä. als Prototyp der Gattung reformatorisches Lehrbild. Cranachs Altar aus der Wittenberger Stadtkirche (1547) mit dem gepredigten Christus und den drei Sakramenten. Das Epitaph für Paul Eber von Lucas Cranach d. J. (1569) mit der Darstellung der Reformatoren im Weinberg des Herrn. Das Babstsche Gesangbuch mit seinen biblischen Illustrationen. Der erste neu geschmiedete Kelch, aus dem die ganze Gemeinde trank. Der erste Kanzelaltar, der das gemalte Altarbild durch das bewegte Bild des Predigers ersetzt. Hendrick van Vliets Blick in die Delfter Oude Kerk von 1671. Eines von Rembrandts Selbstbildnissen als Apostel Paulus. Caspar David Friedrichs „Alte Frau mit Sanduhr und Buch“ als seine Lesart des Jesuswortes „Selig sind, die da glauben, ob sie gleich nicht sehen“ (Johannes 20,29). Piet Mondrians „Blauer Baum“ (1908). Emil Noldes „Christus in der Unterwelt“ von 1911 mit dem evangelischen Pastor im Talar, der den Blick Christi sucht. Ferdinand Hodlers Monumentalbild „Einmütigkeit“, das zeigt, wie Dietrich Arnsborg die Bürger Hannovers 1533 auf den reformatorischen Glauben einschwört. Aber auch: ein Opferstock, der Prototyp des Adventskranzes von Johann Hinrich Wichern, die Tabakspfeife Karl Barths, eines der lila Tücher, die beim Kirchentag 1983 zum Statement in der Nachrüstungsdebatte wurden, eine Jahreslosungs-Karte mit einem Aquarell von Andreas Felger, ein Armband an dem die Perlen des Glaubens aufgefädelt sind, eine der Luther-Skulpturen von Ottmar Hörl, mit denen er das Denkmal von Johann Gottfried Schadow (1821) von seinem Wittenberger Sockel geholt hat, als Symbol für die Luther-Verehrung im Wandel der Zeiten, ein billig gerahmtes Amateurfoto einer Kirche, wie es viele Goldene Konfirmanden als Geschenk ihrer Kirchengemeinde überreicht bekommen – und auf jeden Fall das Facettenkreuz als weit verbreitetes Grafikelement, das die Einheit in Vielfalt der evangelischen Kirche symbolisiert.

Der Protestantismus gilt als Religion des Wortes. Zu Recht. Die Reformation lässt sich im Kern als eine umfassende Konzentrationsbewegung auf das Wort verstehen. Auf das Wort Gottes, wie es in der Predigt begegnet, in Taufe, Abendmahl und Beichte, und in der Heiligen Schrift. Sola scriptura, weg mit allem, was diesem Wort nicht entspricht, weg mit allem Ballast, der es verstellt und entstellt. So wie die Reformatoren mit den kirchlichen Ordnungen und den Sakramenten aufgeräumt haben, taten sie es vielerorts auch mit den Nebenaltären und Heiligenfiguren, mit Statuen und Bildern. Fortan liegt auf dem Altar die Bibel. Und spätestens in der Zeit des Rationalismus und der Aufklärung ist der Protestantismus erkennbar bildloser geworden.

Doch die Evangelischen leben ja keineswegs in Kirchen mit leerem Chorraum und weißen Wänden. So wie es Bilderstürmer und Bildergegner gab, die einen ganzen Berufszweig brotlos machten, gab es immer auch die Bilderbefürworter und Bildermacher der Reformation. Im Umfeld Luthers entstand eine neue, nun protestantisch geprägte Bildwelt. Sie eignet sich nicht für die fromme Verehrung, die Bilder sind auch keine immerwährenden Gebete oder die Vergegenwärtigung göttlicher Geheimnisse. Sie sollen aber mehr sein als nur schöner Schmuck: Bilder zur Erinnerung, zur Argumentation und für die Unterweisung, später auch zur Erbauung. Die religiösen Kunstwerke, die im evangelischen Raum und für evangelische Räume entstehen, sind Verkündigung. Gottes Wort in anderer Form. Selbst die Bildkritik im Gefolge Calvins war keineswegs nur kulturzerstörend, sondern am Ende durchaus kulturproduktiv und hat nicht zuletzt die theoretische Reflexion über die Macht der Bilder gefördert.

Sicher: echte „Bilderlust“ sieht anders aus. Von Opulenz ganz zu schweigen. Das evangelische Verhältnis zur Kunst hat eben prinzipiell ein kritisches Moment. Die Beziehungen zwischen Kirche und Kunst sind nach wie vor ein Fall für die sensible Aktivität der Kulturbeauftragten in den kirchlichen Landschaften. In Bildern zu schwelgen, fällt den Protestanten schwer. Aber die dem Protestantismus immer wieder unterstellte Bilderfeindlichkeit dürfte angesichts der obigen, naturgemäß subjektiven und darin auch zufälligen Liste definitiv als Klischee entlarvt sein.

Unter den Augen der kirchlichen Kunstpfleger und der für den Dialog mit den Künsten Beauftragten ist aber noch etwas ganz Anderes entstanden. Eine Art Subkultur religiöser Alltags- und Gebrauchskunst, die man heute in vielen Kirchen finden kann: Leuchter für Gebetskerzen, aus Taizé mitgebrachte Ikonen, Taufbäume, Weltkugeln mit Gebetskerzen, Fischmotive aus Kinderbibelwochen oder ein Wandgewebe, an dem die Namen und Fotos der neu Getauften fixiert werden. Collagen von Kreuzen mit den Namen der Verstorbenen, die am Ende des Kirchenjahres den Familien mit nach Hause gegeben werden. Und das Bild so manches Gemeindehauses wird geprägt von der selbstgerahmten Fotogalerie der letzten Konfirmandenjahrgänge, von einem Stick-Bild oder einem verblichenen Leuchtturmposter mit einem Segensspruch, einem Hungertuch aus früheren Brot-für-die-Welt-Aktionen, einer Deko-Windmühle im Fenster, und natürlich von Engeln in jeder Ausführung und anderem mehr.

In dieser Ikonographie spiegeln sich die Wechselwirkungen unterschiedlichster religiöser Traditionen und lokal gefärbter Frömmigkeitsentwicklungen. Die Schere zwischen dem, was den Theologinnen und Theologen als richtig und wichtig erscheint und dem, was den Bedürfnissen der Menschen entspricht, ist groß. Hier hat sich die Frömmigkeit und mit ihr der Protestantismus peu à peu eine eigene Bilderwelt erschaffen, an der sich die Theologie, aber auch die Kunst und die Architektur reiben. Manches Bild, das sich einer Gemeinde tief einprägt, wird Zeitgenossen mit einem gewissen Empfinden für Ästhetik ebenso ein Dorn im Auge bleiben wie den Kuratoren der Denkmalpflege.

Wenn man die Impulse der Reformation im Sinne einer kritischen Bildtheorie versteht, kann man diese Sorte Kunst(handwerk) nur als eine Art ‚Gegenreformation‘ auffassen und zur Kampagne „Bildersturm 2.0“ aufrufen: Aufräumen!

Sicher, der Glaube kommt vom Hören (vgl. Römer 10,17). Theologisch ist das klar. Aber ebenso klar ist anthropologisch, dass der Glaube auch von sinnlicher Erfahrung lebt, von der Anschauung – dass er mit „erleuchteten Augen des Herzens“ (Epheser 1,18) zu tun hat und mit der Erfahrung, dass man die Freundlichkeit Gottes sehen kann (vgl. Psalm 34,9). Die Bildwelt, die das Evangelium vor dem inneren Auge aufziehen lässt, drängt offenbar auch nach außen.

Der Wandteppich vom Guten Hirten, der sinkende Petrus, von Jesu Hand aus den Fluten geborgen, kommen in die Jahre. Heute werfen Projektoren Wortbilder an Kirchenwände. Weihnachtsbaumkugeln und Zahnbürsten glitzern ganzjährig zwischen Verbundglasscheiben. Früher oder später wird auch der Straßenkunst-Trend des Urban Knitting die erste kalte Betonsäule einer Kirche aus dem 20. Jahrhundert erreichen. Der Glaube macht sich eben seine Bilder.

Wer weiß, was das Themenjahr „Reformation – Bild und Bibel“ an Erkenntnissen auf diesem Feld alles in petto hat. Es eröffnet die Chance, auch dieser Sorte künstlerischer Kultur genauer auf die Spur zu kommen und dieser Bildsprache der Frömmigkeit etwas zutrauen. Gut evangelisch wäre der Versuch, auch sie im Licht des Evangeliums zu deuten. Denn auch die Alltagskunst hat etwas zu verkündigen. Eines ist immerhin jetzt schon klar: Nüchternheit hin, Bilderfeindlichkeit her – der Protestantismus mag vielleicht keine Augenweide sein, eine Bleiwüste ist er jedenfalls auch nicht.



Dieser Text ist mein Beitrag zum EKD-Themenmagazin
„Reformation – Bild und Bibel“ für das Themenjahr 2015 der Reformationsdekade. Siehe www.reformation-bild-und-bibel.de