Mutmaßlich Straftäter?! Öffentliches Interesse – Wahrheitsfindung – Persönlichkeitsrechte

Tagung der Evangelischen Akademie Loccum
vom 15. bis 16. Oktober 2012

in Zusammenarbeit mit der Holtfort-Stiftung


Straftäter haben eine große Anziehungskraft auf die Medien. Als „Anti-Stars“ machen sie die medial ver­mittelte Welt interessant und garantieren Verkaufszahlen und Einschaltquoten.

An Beispielen wie den aus der Sicherungsverwahrung entlassenen ehemaligen Straftätern aus Insel, dem Amokläufer von Winnenden oder dem Mordfall Lena lässt sich studieren, welche Auswirkungen die Berichterstattung in den Medien hat: auf die öffentliche Wahrnehmung von mutmaßlichen Straftätern und der ihnen zur Last gelegten Delikte und auf die Arbeit der Ermittlungsbehörden und der Gutachter.


Ganz unterschiedliche Interessen stoßen hier aufeinander:

- das Interesse der gesellschaftlichen Öffentlichkeit an detaillierten Informationen über mutmaßliche Straftatbestände, über Täter und das mit ihnen verbundene Gefährdungspotential sowie über den Fortgang der Ermittlungsarbeit,
- das Interesse der Medienvertreter an einer aktuellen und umfassenden Berichterstattung über (mutmaßliche) Straftaten als Wahrnehmung ihres Auftrags für Öffentlichkeit und zur Sicherung der Ertragsgrundlage ihres Unternehmens,
- das Interesse des mutmaßlichen Täters an der Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte, an einer unparteilichen Arbeit der Ermittlungsbehörden und an den Chancen seiner Resozialisierung,
- das Interesse des Opfers bzw. seiner Angehörigen an einer Aufklärung der (mutmaßlichen) Straftat, sowie
- das Interesse der Ermittlungsbehörden an einer unbehinderten Arbeit im Dienste der Wahrheitsfindung und der angemessenen Urteilsfindung im Interesse aller am Verfahren beteiligten Parteien.

Die Tagung verfolgte das Ziel, die wechselseitige Sensibilität der Akteure für einen angemessenen Umgang mit mutmaßlichen Straftätern im Spannungsfeld von Ermittlungsarbeit, öffentlichem Interesse, Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen durch den gemeinsamen Dialog zu stärken.

Hier einige Kernaussagen aus der Diskussion


(1) Berichterstattung in den Medien (insbesondere im Fernsehen) über Straftaten setzt heute stark auf Emotionen. Führend sind dabei – anders vielleicht erwartet – nicht die privaten TV-Sender, sondern die Boulevard-Magazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. In den O-Tönen kommen weit häufiger die Opfer zu Wort als die Tatverdächtigen, und Vertreter der Polizei fast dreimal so oft wie Vertreter der Justiz. Das Bild, das sich auf der Basis dieser Untersuchungen ergibt, ist das einer Absage an einen „missionarischen“ bzw. kritisch-aufklärerischen Journalismus. Hauptmotiv ist der Erfolg beim Publikum.

(2) Gegenüber solcher Form der Berichterstattung, ihren Prinzipien und Methoden erleben sich Staatsanwaltschaft und Polizei, Rechtsanwälte und forensische Gutachter vielfach als machtlos. Die Organe der Rechtspflege sind bestimmte, festgelegte Formen gewohnt. Sie unterliegen einer Kontrolle, und ihre Wahrheit liegt in dem am Ende gesprochenen Urteil. Für die Medien gelten völlig andere Prinzipien. Im Kern geht es dabei um die Frage, wer die Deutungshoheit hat: die Medien oder die Ermittler. Aus Sicht der Strafverteidiger verfestigt sich der Eindruck, Fälle würden durch die „übermächtige Dominanz der Medien“ entschieden. Das Lancieren von Informationen an Journalisten gehöre mittlerweile vielerorts zum Geschäft. Strafverteidigung lohne sich dort, wo die Öffentlichkeit in einem Verdachtsfall noch nicht hergestellt ist: „Es muss ein offenes Rennen bleiben.“ Aus der Perspektive der Staatsanwaltschaft steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine besondere Medienaufmerksamkeit in einzelnen Fällen Auswirkungen auf das Verhalten der ermittelnden Behörden haben kann. Die Kommunikation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft in der Koordination der Pressearbeit wird mehrheitlich als schwierig wahrgenommen. Dazu trägt u. a. der Umstand bei, dass es für die Pressearbeit der Polizei Planstellen gibt, während die Pressearbeit der Staatsanwaltschaften als zusätzliche Beauftragung dienstbegleitend geschieht. Aus der Perspektive der forensischen Gutachter ist eine Verschiebung der Berichterstattung weg vom Opfer hin zum Täter zu beobachten. Täterberichterstattung sei das „dankbarere“ Produkt, denn die Beschäftigung mit Tätern erlaube moralische Überhebung. „Wir sind als Gesellschaft gnadenlos“. Durch das mediale Interesse arbeiteten die Gutachter unter hohem Erwartungsdruck an ihr Ergebnis.

(3) Aus der Sicht der Medienvertreter stellte sich die Lage sehr differenziert dar: Die große Menge der Berichterstattung dürfe als seriös bewertet werden. Gleichwohl gebe es eine Tendenz zu aggressiverer Berichterstattung, insbesondere dort, wo größerer Wettbewerb herrsche. Dort würden auch die gegebenen rechtlichen und ethischen Grenzen erkennbar häufiger überschritten. Alle Persönlichkeitsrechte zu wahren, sei in der alltäglichen Praxis selbst bei bestem Vorsatz und Willen nicht einfach. Es komme in der Praxis immer wieder vor, dass Anwälte oder Staatsanwälte Journalisten mit Informationen versorgten, um auf diese Weise auch im guten Sinne Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen. Dabei werde mitunter auch die Grenze zur versuchten Instrumentalisierung überschritten. Zu unerwünschten Qualitätsverlusten führten die sich ändernden Rahmenbedingungen für journalistische Arbeit: die Auflösung von Fachredaktionen, die Zuständigkeit für unterschiedlichere Themen, ein gestiegenes Aufgabenvolumen (zusätzlich Produktion von Bildmaterial), erhöhte Kompatibilitätsanforderungen für die Produkte (Verwendung in unterschiedlichen Medien sein). Ingesamt gelte: Journalisten und Akteure der Rechtspflege sind zu einem gewissen Maß aufeinander angewiesen. Medien und Justiz reagieren als Teilsysteme auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen. Vielleicht ist die Verwandtschaft zwischen beiden Systemen größer als bislang erkannt oder zugegeben.

(4) Was lässt sich hinsichtlich des Zusammenwirkens der beiden Systeme verbessern? Ganz allgemein muss es darum gehen, die Arbeit und die unterschiedlichen Interessen des Anderen zu respektieren. Die Justiz muss das Vertrauen in die Medien zurückzugewinnen. Ein verbessertes Medientraining für die Vertreter der Rechtspflege ist wünschenswert; entsprechende Angebote gibt es bereits. Die Zusammenarbeit zwischen den Pressestellen von Polizei und Staatsanwaltschaft bedarf massiver Verbesserung. Die Journalisten müssen in jedem Fall sorgfältig prüfen, wie mit Informationen umgegangen wird, die noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Für die neuen Herausforderungen durch die Möglichkeiten der Social media (das Handy-Foto, das unmittelbar auf Facebook gepostet wird), gibt es noch keine Lösungen. Erkannt ist das Problem einer „Verurteilung nach der Verurteilung“. Die Justizbehörden sehen sich vor der Aufgabe, Inhaftierte dort vor sich selbst zu schützen, wo sie Berichterstattung in den Medien wollen, ohne im Einzelfall die Folgen abschätzen zu können. Auch hier geht es um die Vermittlung von Medienkompetenz, insbesondere für den Umgang mit den sog. „neuen Medien“.