Diss


Das Gebet der Gottesknechte
Jesaja 63,7 - 64,11 im Jesajabuch

 

Inmitten der Heilsweissagungen für Zion/Jerusalem und seine Bewohner am Ende des Jesajabuches (Jes 60-62; 65-66) steht ein Gebet, das in eindrücklichen Bildern und mit großer sprachlicher Originalität den desolaten Zustand von Stadt, Tempel und Volk beklagt und Jahwe um seine Zuwendung und Hilfe bittet: "Du bist doch unser Vater! ... Ach, daß du die Himmel zerrissest und herabführest!"

Die Wirkungsgeschichte dieses Textes reicht bis in die christliche Hymnologie ("O Heiland, reiß die Himmel auf", EG 7) und die Ordnung der Predigttexte für den ersten (OLM, Reihe B) bzw. zweiten Advent (Perikopenordnung der EKD, Reihe IV).

Dem ersten Anschein nach handelt es sich bei Jes 63,7 - 64,11 um ein Volksklagelied, das im literarischen Kontext des Jesajabuches überliefert ist. Doch die in der Forschung weit verbreitete Interpretation des Textes allein in der Tradition der Volksklage bleibt eine plausible Antwort auf die Frage schuldig, warum das Gebet dort zu stehen kommt, wo es heute steht.

Die vorliegende Studie stellt dieses 'Gebet gegen die Verborgenheit Gottes' in den literarischen Zusammenhang des Jesajabuches und interpretiert es als ein Zeugnis prophetischer Schriftauslegung. Vor dem literarischen Horizont des Jesajabuches erschließt sich der Text als das Gebet schriftgelehrter Tradenten der jesajanischen und deuterojesajanischen Prophetie, die ihr Schicksal im Lichte des leidenden Gottesknechts der Ebed-Jahwe-Lieder und der Verstockungsaussage von Jes 6 deuten.

Anhand seiner Spitzenaussagen wie der Heiligkeitsprädikationen für Jahwes Geist und die judäischen Städte, der (im AT hier einzigartigen!) direkten Anrede Jahwes als Vater und einem radikal ‚theozentrischen' Sündenverständnis wird der Text in der alttestamentlichen Theologiegeschichte verortet.

Nach der detaillierten sprachlichen Analyse und der theologischen Profilierung des Textes ordnet die Göttinger Dissertation das Gebet Jes 63,7 - 64,11 schließlich in die literarischen Wachstumsprozesse des sog. "Tritojesaja" ein. In einer Verbindung von Fortschreibungshypothese und literarkritischer Differenzierung beleuchtet sie die letzten Phasen der Redaktionsgeschichte des Jesajabuches und gibt damit einen neuen Impuls für die Tritojesajaforschung, besonders im Blick auf die Entstehung von Jes 62-66.

Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Lothar Perlitt und Prof. Dr. Reinhard G. Kratz betreut und im Sommer 2000 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertationsschrift angenommen.

Das Buch ist als Band 92 der "Wissenschaftlichen Monographien zum Alten und Neuen Testament" im Neukirchener Verlag erschienen (ISBN 3-788-71858-7).


abstract

Is. 63:7 - 64:11 is the object of this study: a plea for Jahwe's support and help for Zion/Jerusalem and its people. A text of great linguistic originality and impressive imagery, this 'prayer in the face of an absent God' is recognised to be an example of prophetic interpretation of Scripture within the literary context of the book of Isaiah. The study attempts to locate Is. 63:7 - 64:11 within the history of Old Testament theology, and to throw some light onto the final stages of the redaction history of the book of Isaiah.